Menschenrechte: Proklamation und Realisierung

Menschenrechte: Proklamation und Realisierung
Menschenrechte: Proklamation und Realisierung
 
Die inzwischen sehr hohe Zahl moderner Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte, die oft sehr verzweigte Entstehungsgeschichten haben, darf nicht von dem Problem ablenken, dass ihre Formulierung sie noch lange nicht zu garantierten oder auch nur einklagbaren Rechten macht. Das neuere Konzept konkreter Bürgerrechte musste sich von dem Begriff des römischen Rechts lösen, worin es keine Menschenrechte und auch keinen juristischen Begriff des Menschen gab. Grundgedanken zum Menschenrecht waren bereits in der Stoa, in der christlichen Lehre sowie in den Naturrechtstheorien der frühen Neuzeit angelegt. Mitunter wird auch die »Magna Charta« (1215) als Ausgangspunkt genannt; in Anbetracht aber der Tatsache, dass es in der »Magna Charta« um die keineswegs zu verallgemeinernden Rechte englischer Barone ging, und in Anbetracht der Tatsache, dass England nicht einmal in der Tradition des römischen Rechts stand, sind diese Rückbezüge nicht wirklich schlüssig.
 
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Erklärung der Rechte von Virginia aus dem gleichen Jahr waren die ersten politisch wirksamen Deklarationen der allgemeinen Menschenrechte. Hier hatte man »Menschen« sagen müssen, weil jedwede Beschränkung - wie etwa die auf die »protestantischen Untertanen« der englischen »Bill of Rights« (1689) - undenkbar war. Allerdings wurden in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung weder die »gnadenlosen Wilden« noch die Sklaven überhaupt als Menschen angesehen. Zugänglich wurde das Dokument in Frankreich durch eine redigierte Fassung des Herzogs von La Rochefoucauld, einem Anhänger Rousseaus, der sie der französischen Nationalversammlung vorlegte.
 
Während in den Beratungen von 1776 im amerikanischen Philadelphia nicht einmal danach gefragt wurde, ob man sich auf Grotius und Pufendorf oder Montesquieu und Rousseau beziehen solle, waren einzelne Formulierungen und der Sinn der Erklärung insgesamt umstritten.Die Tradition des Naturrechts war so fest im Denken verankert, dass kaum jemand glauben konnte, durch eine Erklärung seien Rechte und Freiheiten zu schaffen. Nur eine souveräne Nation konnte sie darlegen, aber wem und zu welchem Zweck? Warum sollte das Volk als Souverän seinem Mandatar, der Regierung, ausgerechnet die Rechte empfehlen, die unverzichtbar sind, nicht eingeschränkt oder delegiert werden sollen und nicht im Ermessen von Regierungen stehen dürfen? Lieferte man den Regierungen damit nicht gerade den Vorwand, ihre Macht darauf auszudehnen? So fragte besorgt Alexander Hamilton im Bewusstsein englischer Rechtstradition, und Thomas Jefferson konnte nur mit einem historischen Argument antworten, nämlich damit, dass die Bildung der Vereinigten Staaten als Ausnahmeerscheinung in der Weltgeschichte eine solche Erklärung rechtfertige.
 
Die amerikanischen Erklärungen waren alles andere als revolutionär, da sie ihren (männlichen, weißen) Bürgern nur jene Grundrechte zusprachen, die sie als protestantische Untertanen in ihrem Mutterland ohne besondere Regelung gehabt hätten. Die französische Erklärung von 1789 (die 1791 leicht verändert wurde) aber war es, denn sie gab der künftigen Verfassung den rechtlichen Boden, die Befreiung der Leibeigenen, die Aufhebung lehensherrlicher Rechte und grundherrlicher Gerichtsbarkeit durchzuführen sowie die Käuflichkeit der Ämter, Privilegien von Gemeinden, Provinzen, Körperschaften und den auschließlichen Zugang des Adels zu Offiziersstellen aufzuheben. Sie schuf neue gesellschaftliche Tatsachen, Rechte und Besitzverhältnisse, die auch die Restauration später nicht mehr ändern konnte. Sie war einzigartig in ihrer Wirkung, legte aber zunächst den Fehlschluss nahe, dass man schon allein durch eine Erklärung der Rechte politische Ziele zu geringeren Kosten erreichen könne.
 
In Frankreich hatte sich der dritte Stand im Juni des Revolutionsjahres zur Nationalversammlung erklärt, die Standesvorrechte waren in einer von Enthusiasmus getragenen Nachtsitzung am 4. August mit dem »Ballhausschwur« aufgehoben worden. Man wollte eine konstitutionelle Monarchie mit unterschiedenen Gewalten, wie Montesquieu sie beschrieben hatte, durchsetzen. Aber das Modell England hatte keine geschriebene Verfassung, nur einzelne Gesetze, und man wusste noch nicht, wie man mit den Institutionen, mit Adel und Klerus verfahren sollte. Inmitten von Staatsbankrott, Hungersnot und Unruhen war es die Aufgabe, ein völlig neues Gesetzeswerk zu schaffen, über dessen Prinzipien allerdings noch Uneinigkeit herrschte.
 
Grundrechte sind keine Axiome, aus denen die einzelnen Gesetze logisch abzuleiten wären. So sorgte die Ausformulierung der französischen Verfassung denn auch noch für einige Diskussionen. Gegen kunstvoll begründende Deklarationen, wie der etwas doktrinäre Sieyès und der sehr prinzipielle Condorcet sie planten, drang Mirabeau auf eine pragmatische Formulierung, die ein weitgehend analphabetisches Volk, das in vielen Teilen des Landes nicht einmal französisch sprach, als Verfassung der Revolution verstehen sollte. Als man sich über die Prinzipien weitgehend, über die Ausarbeitung aber gar nicht einig war, wollte Mirabeau die Redaktion verschieben. Die Nationalversammlung mit einem hohen Anteil juristisch gebildeter Abgeordneter bearbeitete die künftige Verfassung jedoch im Plenum. Ihr war es wichtig, die neue, aus Verfassungskämpfen des 16. Jahrhunderts hervorgegangene politische Theorie in die Tradition der römischen Republik zu stellen, um damit die eigene Geltung zum Ausdruck zu bringen.
 
Die französische Erklärung der Rechte erwies sich bald als ein höchst wirkungsvolles Mittel der ersten Nationalversammlung im Kampf gegen die alte Monarchie und ihren »Minister-Despotismus«, gegen das Besitzrecht des Königs an seinem Staat, gegen Willkür, Privilegien und Folter. Sie war jedoch sehr viel republikanischer als ihre Verfasser, und sie beinhaltete im Grunde bereits das allgemeine Wahlrecht (ohne Zensus), auch der Frauen, sowie die Aufhebung der Sklaverei in den Kolonien - wenn es auch lange noch nicht darum ging, diese Prinzipien in die politische Praxis umzusetzen. Dennoch war die französische Verfassung nicht frei von Widersprüchen. Frankreich hatte ein derart »in antisozialen Institutionen gealtertes Volk« (Mirabeau), dass der Begriff des Volkes, der im römischen und englischen Recht hoch angesehen war, in der Nationalversammlung auf Unmut stieß; hier sprach man nun von »Nation«, wenn die Souveränität des Volkes gemeint war. Die Verfassungsform anzugeben vermied man. Der Artikel über die Meinungsfreiheit setzte die erst zu schaffende »öffentliche Ordnung« schon voraus, und jener über die Pressefreiheit implizierte ihren Missbrauch. Das Eigentum wurde nicht per Gesetz geschaffen, wie Rousseau es wollte, sondern der Bürger schon als Eigentümer vorausgesetzt.
 
Die Menschen- und Bürgerrechte sind eine späte Frucht der Philosophie. Sie leiten sich aus dem stoischen Naturrecht und aus der christlichen Anthropologie her. Zu ihrer Konstituierung bedurfte es sowohl der besonderen englischen Rechtsentwicklung wie des Aufschwungs des vergleichenden öffentlichen Rechts in Frankreich im 16. Jahrhundert. Montesquieus geschulte französische Begrifflichkeit verhalf in Amerika zu einer ersten Formulierung, die im Frankreich der Revolution von 1789 beispielhaft und universell über die eigenen unmittelbaren Absichten hinaus durchgearbeitet wurde. Die Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte sind das sichtbare Zeichen der Philosophie der Aufklärung in der modernen politischen Geschichte und von bleibender Aktualität. Heute wie zur Zeit ihrer Formulierung ist es jedoch mit der Verabschiedung einer Erklärung nicht getan. Man muss Hand anlegen, um Rechtsbewusstsein und Rechtssicherheit zu schaffen.
 
Prof. Dr. Horst Günther

Universal-Lexikon. 2012.

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